Merkblatt Familiengericht 2008
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Merkblatt Familiengericht 2008
von Heinz am 04.03.2009 11:18Merkblatt 22 des Familiengerichts Holzminden
Eine Information für Eltern über den Ablauf und das Ziel von Verfahren nach § 1666 BGB
(gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls)
Ihnen liegt ein Schreiben vor, dem Sie einen Antrag oder eine Anregung des Jugendamtes entnehmen können.
Das Gericht wird im Rahmen einer Anhörung mit Ihnen über den Inhalt des Schreibens und die Situation Ihrer
Familie sprechen.
Manchen Eltern ist nicht ganz klar, was jetzt auf sie zukommt. Ratgeberliteratur werden Sie für die spezielle
Problematik kaum finden. Das Merkblatt soll deshalb schon einmal erste Fragen beantworten.
Streckenweise ist der Text schwierig. Die Sprache der Juristen hat das manchmal so an sich. Bitte machen Sie
sich trotzdem die Mühe, das Merkblatt durchzulesen. Danach werden Sie vielleicht weitere Fragen haben, die
demnächst gemeinsam im Termin besprochen werden können.
Zu den Fußnoten ist zu bemerken: hier wird Literatur und Rechtsprechung zitiert, die für Laien nicht ohne
weiteres verfügbar ist. Die Fußnoten richten sich an die Fachleute. Wenn Sie eine Anwältin oder einen Anwalt
mit der Wahrnehmung Ihrer Interessen beauftragt haben, können Sie sich dort nähere Erläuterungen geben
lassen.
1. Der Anlass des Verfahrens
Das Familiengericht wird gemäß § 12 FGG „von Amts wegen“ tätig, wenn ihm eine
Gefährdung des Kindeswohls bekannt wird und Regelungen im Interesse eines Kindes zu
treffen sind. Irgendjemand muss es dem Gericht aber sagen, wenn ein Regelungsbedarf
besteht. In der Mehrzahl der Fälle macht das das Jugendamt:
§ 8 a III SGB VIII
„Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das
Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Personensorgeberechtigten oder die
Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des
Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die
Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das
Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.“
§ 1666 I BGB
„Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen
gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden,
so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr
erforderlich sind.“
2. Elterliche Sorge
Gemäß § 1626 I BGB haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für ihr minderjähriges
Kind zu sorgen. Elterliche Sorge heißt (unter anderem), das Kind zu pflegen, zu erziehen,
zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.
Die elterliche Sorge ist Bestandteil und wichtigste Funktion der elterlichen
Verantwortung. Wie die Eltern diese Verantwortung wahrnehmen, ist grundsätzlich ihre
Sache. Aber es gibt Grenzen. Diese Grenzen können sich ganz konkret aus dem Gesetz
ergeben. Zum Beispiel legt § 1631 II BGB fest, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie
Erziehung haben: körperliche Bestrafungen sind verboten.
Grenzen sind aber auch abstrakt formuliert, wie zum Beispiel im oben schon erwähnten
§ 1666 I BGB. Über die Einhaltung der Grenzen wacht
3. der staatliche Wächter
Damit sind das Jugendamt und das Familiengericht gemeint. Die Regelung hierfür ergibt
sich aus Artikel 6 II GG. Dort heißt es in etwas altmodischem Deutsch:“ Pflege und
Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen
obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Dabei ist
jede Nähe zu Formen der Staatserziehung strikt zu meiden1.
4. Gefährdung des Kindeswohls
Zunächst ist zu erklären, was das denn überhaupt ist: das Kindeswohl. Und das fällt
mitunter auch Juristen schwer2.
Grundsätzlich ist zu sagen, dass das Kindeswohl als unbestimmter Rechtsbegriff jeweils
auf den Einzelfall bezogen zu ermitteln ist3.
Vier Gesichtspunkte spielen hier unter anderem eine Rolle: es geht um Chancen der
Entwicklung, um die Bindungen zu den Bezugspersonen, um Selbstbestimmung und
Sozialisation und nicht zuletzt um gelebte Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.
Oder nach einer (hier leicht abgewandelten) Definition des Kindeswohls aus einem
renommierten Kommentar:
Kindeswohl ist das körperliche, geistige oder seelische Wohl. Zum Kindeswohl zählt die
Möglichkeit, zu einer selbständigen und verantwortungsbewussten Person heranwachsen
zu können und vor allem auch die Fähigkeit zum Zusammenleben in der Gemeinschaft zu
erlangen. Stabilität und Kontinuität in den Beziehungen zu den Eltern und anderen
Familienangehörigen und schließlich zu weiteren Bezugspersonen sind dabei ein
wesentlicher Faktor. Dabei erlangen die Vorstellungen des Kindes mit zunehmendem
Alter erhebliche Bedeutung4.
Der UN-Kinderrechtskonvention vom 20.11.1989 können Grundbedürfnisse entnommen
werden (basic – needs), die erfüllt sein sollten, wenn von Kindeswohl gesprochen wird5:
- Liebe, Akzeptanz und Zuwendung
- Stabile Bindungen
- Bedürfnis nach Ernährung und Versorgung
- Bedürfnis nach Gesundheit
- Bedürfnis nach Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung
- Bedürfnis nach Wissen, Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung
Und wann ist das Kindeswohl gefährdet?
Darunter kann eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr verstanden
werden, dass sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen
lässt6.
1 Schwab, Familienrecht, 14. Auflage, FN 544: das staatliche Wächteramt tritt erst dann auf den Plan, wenn die
Eltern das Kindeswohl in Ziel oder Mittel grob verfehlen. Der Regierungsentwurf (BT-Drucksache 16/6815 v.
24.10.2007) des Gesetzes zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls
stellt Familiengerichte und Jugendämter in eine Verantwortungsgemeinschaft, die (subsidiär) dann eingreift,
wenn die vorrangig Verantwortung tragenden Eltern ihre Elternverantwortung nicht wahrnehmen (können).
2 Palandt/Diederichsen, BGB, 65. Auflage, § 1666 RN 15: Was darunter zu verstehen ist, lässt sich in einer
Sachdefinition nicht eindeutig festlegen.
Johannsen/Henrich/Büte, Eherecht, 4. Auflage, § 1666 BGB, RN 22: Der unbestimmte Rechtsbegriff des
Kindeswohls ist nur schwer zu konkretisieren.
3 Zorn, Das Recht der elterlichen Sorge, Berlin 2006, RN 311
4 Münchener Kommentar BGB/Olzen, 4. Auflage, § 1666 RN 43/44
5 s. Fegert in Brühler Schriften zum Familienrecht Band 11, 13. DFGT, Bielefeld 2000, S. 33 ff
Hierzu ein paar - keineswegs abschließende7 - Beispiele:
Gefährdungssachverhalte können sich ergeben,
- wenn der betreuende Elternteil den Umgang des Kindes mit dem anderen Elternteil
oder mit dessen Geschwistern vereitelt.
- Bei körperlicher Misshandlung und bei Vernachlässigung im medizinischen Bereich
(Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen) ist das Kindeswohl gefährdet.
- Eltern sind mitunter überfordert bei der Erziehung.
- Streit und Gewalt zwischen den Eltern in Gegenwart von Kindern gefährden das
Kindeswohl.
- Wenn Eltern dulden, dass ihr Kind die Schule schwänzt, ist das Kindeswohl
gefährdet.
5. Maßnahmen
Einige Maßnahmen sind in § 1666 III BGB erwähnt. Insbesondere gehören dazu:
- Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe
und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
- Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
- Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine
andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung
aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind
regelmäßig aufhält,.
- Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem
Kind herbeizuführen,
- Die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge..
Die Aufzählung ist nicht abschließend. Wenn diese Maßnahmen nicht ausreichen, kann
darüber nachgedacht werden, Kinder außerhalb ihrer Familie unterzubringen.
6. Ziel
des Verfahrens ist es, gerade diesen schweren Eingriff in die Autonomie der Familie zu
vermeiden.
Dabei ist die Mitwirkung der Eltern erforderlich.
Die Eltern müssen zeigen, dass sie im Sinne des § 1666 BGB „gewillt und in der Lage
sind, die Gefahr abzuwenden“. Dazu gehört ihre Bereitschaft, Hilfemaßnahmen nach dem
SGB VIII, die das Jugendamt anbieten kann und muss, anzunehmen, wenn diese Hilfen
geeignet sind, eine Vollzeitunterbringung von Kindern entbehrlich zu machen.
Als solche weniger belastenden Hilfeangebote kommen beispielsweise in Betracht:
- Erziehung in einer Tagesgruppe
- Unterstützung durch einen Erziehungsbeistand
- Sozialpädagogische Familienhilfe.
Wenn entsprechende Hilfeangebote gemacht werden könnten, ist den Eltern zu
empfehlen, ihre Bereitschaft zur Kooperation mit den Fachkräften zu erklären.
Und das nicht nur pro forma (zum Schein). Schädlich wäre es, sich auf nichts
einzulassen und stur in Opposition zum Jugendamt zu gehen, denn dann kann auch das
Gericht nicht erkennen, ob die Eltern (s.o.) „gewillt und in der Lage sind, die Gefahr
abzuwenden“8.
6 Hoppenz/van Els, Familiensachen, 8. Auflage, § 1666 RN 13
7 Eine ausführliche Aufstellung ist bei Zorn, a.a.O., RN 317 ff zu finden.
7. Wenn sich das Ziel nicht erreichen lässt
wäre als „ultima ratio“ (letzte, äußerste Maßnahme) den Kindeseltern das Sorgerecht zu
entziehen.
Es gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität staatlichen Handelns9.
Was heißt das? Zunächst: es ist nicht Aufgabe des staatlichen Wächters, bereits dann
einzuschreiten, wenn eine „bessere“ Möglichkeit der Unterbringung von Kindern besteht,
als deren Eltern sie bieten können10.
Öffentliche Hilfen gehen gerichtlichen Maßnahmen vor. § 1666 a BGB legt das noch
einmal eigens fest:
Maßnahmen, die mit der Trennung eines Kindes von der elterlichen Familie verbunden
sind, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch
öffentliche Hilfen, begegnet werden kann (§ 1666 a I 1 BGB).
Und außerdem:
Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos
geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht
ausreichen (§ 1666 a II BGB).
Wenn sich ein Aufenthaltswechsel von Kindern im Einzelfall nicht vermeiden lässt, gilt
zunächst und vor allem: Eltern bleiben Eltern. Die elterliche Verantwortung bleibt
bestehen. Pflegeeltern sind nicht Ersatz für Eltern, sondern eine sinnvolle Ergänzung.
Eltern sollten sich nicht einreden lassen, dass nach einem Wechsel ihrer Kinder in einen
anderen Haushalt oder in ein Heim andere Menschen an die Stelle der Eltern treten und
diese weitgehend verdrängen11. Es ist deshalb darauf zu achten, dass nach einer
Fremdplatzierung ein regelmäßiger Kontakt zu ihren Kindern gepflegt wird (siehe dazu
Ziffer 10.zum Umgang).
8. EuGHMR
An dieser Stelle ist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte aufmerksam zu machen (abgekürzt: EuGHMR)12. Vorübergehend wurde
behauptet, die Auffassung dieses Gerichts spiele keine oder allenfalls nur eine geringe
Rolle. Diese Position ist inzwischen überholt.
Der EuGHMR wacht über die Einhaltung der „Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (EMRK) in den Europaratsstaaten.
Nach Art. 8 I EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Familienlebens.
8 Neben Kooperationsbereitschaft wird von den Eltern auch Lernbereitschaft erwartet; so sehr deutlich OLG
Köln FamRZ 2006, 877/878 – abgedruckt sind leider nur Leitsätze.
9 Subsidiarität bedeutet: grundsätzlich handelt der Staat nur dann anstelle der Eltern, wenn sie nicht in der Lage
sind, die elterlichen Aufgaben wahrzunehmen.
10 Zorn, a.a.O., RN 312; OLG Celle FamRZ 2003, 549/550:Selbst einer nicht optimalen Betreuung kommt
grundsätzlich Vorrang zu - bis zur Grenze der Kindeswohlgefährdung!
Ebenso Wiesner FPR 2007, 6ff, der darauf hinweist, dass Elternrecht und Kindeswohl nicht als gegeneinander
gerichtete Antagonismen (Gegensätze) aufzufassen sind. Dem ist zuzustimmen, zumal das Elternrecht
wesentlich ein Recht im Interesse des Kindes ist (BVerfG , Beschluss vom 9.2.07 – 1 BvR 125/07 -).
11 Zumal eine Orientierung an solchen Prinzipien auch als Form der Staatserziehung aufgefaßt werden könnte. Es
gibt aber Vertreter solcher Ideologie, die das anders sehen. Zutreffend dagegen: Wiemann, Ratgeber
Pflegekinder, Rowohlt Sachbuch Nr. 19568, 6. Auflage 2005
12 Sehr zu empfehlen ist hierzu die Darstellung von Rixe in Brühler Schriften zum Familienrecht Band 14,
16.DFGT, Bielefeld 2006, S. 57 ff.
5
Das gegenseitige Erleben, so der EuGHMR13, des Zusammenseins von Eltern und Kind
stelle einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens dar. Deshalb dürfe die
Inpflegegabe eines Kindes grundsätzlich nur eine vorübergehende Maßnahme sein, die zu
beenden sei, sobald die Umstände das erlauben. Alle Maßnahmen hätten mit dem
anzustrebenden Ziel der Zusammenführung von Eltern und Kind in Einklang zu stehen.
Die deutsche obergerichtliche Rechtsprechung orientiert sich zunehmend an Art. 8 EMRK
und den Entscheidungen des EuGHMR hierzu14, die zu „berücksichtigen“ sind.
9. Verfahren in Stichworten
Eingeleitet wird das gerichtliche Verfahren, wie bereits erwähnt wurde, in der Regel auf
einen Antrag oder eine Anregung des zuständigen Jugendamts, das hierzu einen
umfassenden Bericht vorlegt, zu dem die Eltern Stellung nehmen können.
Es wird dann mit Rücksicht auf den kindlichen Zeitbegriff zügig ein Termin anberaumt, in
welchem die Eltern angehört werden. Mit der Wahrnehmung ihrer Interessen können die
Eltern eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt beauftragen.
Im Termin wird zunächst mit den Eltern zu besprechen sein, wie das Ziel des Verfahrens
(s. Ziffer 6.) erreicht werden kann15.
Auch wenn nur ein Elternteil Alleininhaber der elterlichen Sorge sein sollte, sind beide
Eltern an dem Verfahren zu beteiligen. Das ergibt sich aus § 1680 II, III BGB. Denn wenn
dem Alleininhaber die elterliche Sorge entzogen wird, ist zu prüfen, ob der andere
Elternteil nicht einspringen kann.
Wenn Zweifel bestehen, ob die in Ziffer 6. aufgeführten Hilfemaßnahmen ausreichen,
wäre zu überlegen, ob das Gericht eine Sachverständige oder einen Sachverständigen
beauftragen sollte.
Denn die Herausnahme des Kindes aus seinem Elternhaus stellt einen Eingriff in die
Bindungen zwischen Eltern und Kind dar. Dadurch ist das Kindeswohl unmittelbar
betroffen (vgl. oben die basic – needs) und das kann zu Schädigungen des Kindes führen.
In dem Falle sind beide Risiken für das Kindeswohl sachverständig gegeneinander
abzuwägen.
§ 50 II 1 Zf. 2 FGG sieht vor, dass dem Kind ein Verfahrenspfleger16 zu bestellen ist,
wenn Gegenstand des Verfahrens Maßnahmen wegen Gefährdung des Kindeswohls sind,
mit denen die Trennung des Kindes von seiner Familie verbunden ist. Der
Verfahrenspfleger hat das Interesse des Kindes festzustellen und im gerichtlichen
Verfahren zur Geltung zu bringen17. Er ist somit nicht bloßes Sprachrohr des Kindes.
Mitunter wird im Verfahren der Vorwurf erhoben, das Gericht richte sich ja doch nur nach
den Vorstellungen des Jugendamtes18. Das ist falsch. Das Gericht wahrt gegenüber dem
Jugendamt Neutralität ebenso wie gegenüber den Kindeseltern19.
13 EuGHMR FamRZ 2005, 585 (Haase./. Bundesrepublik Deutschland); im vorliegenden Zusammenhang ist
auch das Verfahren Kutzner./. Bundesrepublik Deutschland zu erwähnen: EuGHMR FamRZ 2002, 1393. Der
EuGHMR hat eine Website, auf der die Urteile in deutscher Sprache nachgelesen werden können.
14 Deutlich etwa OLG Hamm FamRZ 2006, 1476 f; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25.2.2006 – 16 UF 160/05 -
15 Bzw. wie § 50 a I 3 FGG formuliert „wie die Gefährdung des Kindeswohls abgewendet werden kann“.
16 Der Verfahrenspfleger wird manchmal anschaulich, aber etwas ungenau als „Anwalt des Kindes“ bezeichnet.
17 § 166 IV des Referentenentwurfs eines künftigen Familienverfahrensgesetzes
18 Eine verbreitete Metapher (bildhafte Übertragung) leistet dieser Ansicht Vorschub: danach sei das Jugendamt
gleichsam Auge und Hand des staatlichen Wächters, das Familiengericht aber dessen Schwert (Fieseler/
Hannemann, ZKJ 2006, 117/119). Die erkenntnisleitende Funktion von Metaphern ist allerdings begrenzt.
19 Dass den Vorstellungen des Jugendamtes häufiger entsprochen wird, liegt an der sorgfältigen, qualifizierten
und am Kindeswohl ausgerichteten Tätigkeit der im hiesigen Gerichtsbezirk zuständigen Jugendämter.
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10. Umgang
Das Umgangsrecht der Eltern steht ebenso wie die elterliche Sorge unter dem
Schutz des Art. 6 II 1 GG. Der Inhaber des Sorgerechts oder derjenige, bei dem sich ein
Kind aufhält, muss demgemäß grundsätzlich den persönlichen Umgang des Kindes
mit dem umgangsberechtigten Elternteil ermöglichen20. Nach einer Herausnahme des
Kindes aus dem Haushalt seiner Eltern wegen einer Gefährdung des Kindeswohls ändert
sich an diesem, sich aus § 1626 III BGB ergebenden Prinzip nichts21.
Zum Umfang des Umgangs der Kinder getrennt lebender Eltern haben sich Standards
herausgebildet22. Manche meinen, deren Regeln lassen sich nicht auf Kinder übertragen,
die wegen der Gefährdung des Kindeswohls nicht mehr bei ihren Eltern wohnen.
Für einen Teil dieser Kinder mag das zutreffen23. Verallgemeinern lässt sich das nicht.
Denn nach einem einheitlichen Rezept dürfen unterschiedliche und
deshalb individuell zu bewertende Sachverhalte nicht behandelt werden.
Das bedeutet: keine automatische Einschränkung des Rechts der Kinder auf Umgang
mit ihren Eltern bei Fremdunterbringung. Der Umgang auswärtig untergebrachter Kinder
mit ihren Eltern ist stattdessen je nach den Umständen des Einzelfalls zu regeln.
Dabei darf das gesetzliche Gebot nicht übersehen werden, das dem staatlichen Wächter
auferlegt, die Bedingungen herzustellen, die eine Rückkehr der Kinder in ihre Familien
ermöglichen. Eine restriktive Handhabung des Umgangsrechts oder gar ein Ausschluss
wären vor diesem Hintergrund nicht gesetzeskonform24. Und damit sind wir bei der
11. Rückkehroption
Streng genommen, so das OLG Hamm, sei der Begriff der Dauerpflege von vorneherein
irreführend25.
Angeblich wird fast ein Drittel der Pflegeverhältnisse innerhalb von zwei Jahren beendet
und ein weiteres Drittel in einem Zeitraum von fünf Jahren26. Das ist, wenn man bedenkt,
welch hohe Hürden überwunden werden müssen, bevor es zu einer Herausnahme von
Kindern aus ihren Familien kommt, eine beträchtliche Anzahl27.
Nach § 36 II SGB VIII ist von den Fachkräften der Jugendhilfe regelmäßig zu prüfen, ob
die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist. Auch das Gericht überprüft
länger dauernde Maßnahmen gemäß § 1696 III BGB in angemessenen Zeitabständen und
20 BVerfG FamRZ 2007,335: mitunter auftretende organisatorische Probleme dürfen einer Umgangsregelung
nicht imWege stehen und auch die Pflegeeltern sind aufgerufen, den Umgang zu fördern.
21 Staudinger/Rauscher, BGB (Neubearbeitung 2006), § 1684 RN 50: allerdings können die Gründe, welche die
Erziehungsunfähigkeit der Herkunftsfamilie begründen, ggf. eine Einschränkung, äußerstenfalls den Ausschluss
des Umgangsrechts erforderlich machen.
22 Besuche an den Wochenenden und den hohen Feiertagen sowie Ferienregelungen. Verfehlt wäre eine
Handhabung des Umgangsrechts, die sich auf bloße Besichtigungsfahrten beschränkt (vgl. Büte, Das
Umgangsrecht bei Kindern geschiedener oder getrennt lebender Eltern, 2. Auflage, RN 138).
23 Das kann zum Beispiel bei Eltern der Fall sein, die einen Besuchstermin dazu missbrauchen, ihre Kinder in
Loyalitätskonflikte zu stürzen. Bedenken bestehen auch, wenn die Herausnahme erfolgte, weil die Kinder in der
Herkunftsfamilie Gewalt erleben mussten (zutreffend insoweit Schauder ZKJ 2007, 92/95).
24 Auch der EuGHMR FamRZ 2002,1393 tadelt eine einschränkende Regelung des Umgangs und insbesondere
die gelegentlich noch zu beobachtende Handhabung eines längeren Kontaktverbots im unmittelbaren Anschluss
an die Herausnahme.
25 OLG Hamm FamRZ 2006, 1476/1477
26 Münder, Kinder- und Jugendhilferecht, 5. Auflage, S. 123 f; Zenz, die der Rückkehroption kritisch
gegenübersteht, führt aus, dass - regional unterschiedlich - zwischen 18 und 39 % der Pflegekinder nach ein bis
fünf Jahren Aufenthalt in der Pflegefamilie in ihre Herkunftsfamilien zurückkehren (in: Stiftung „ZumWohl des
Pflegekindes“ (Hrsg.), 2.Jahrbuch des Pflegekinderwesens, 2. Auflage 2005, S. 29).
27 Diese hohe Quote kann für den Amtsgerichtsbezirk Holzminden nicht bestätigt werden.
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hebt sie auf, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht (§ 1696 II
BGB).
Vorschnelle Schlussfolgerungen sind unangebracht, denn: die sog. Rückkehroption
bedeutet nicht, dass Eltern die Herausgabe ihrer Kinder jederzeit und nach Belieben
verlangen können. Insbesondere geschieht es nicht automatisch, dass Eltern ihre Kinder
schon im Falle einer erfolgreichen Stabilisierung ihrer eigenen Lebenssituation und
häuslichen Verhältnisse wieder zurückverlangen können28. Vielmehr kann die Rückkehr
erst nach einer umfassenden Prüfung der Kindesinteressen angeordnet werden. Stehen die
Kindesinteressen einer Rückführung entgegen, kann das zu einer Verbleibensanordnung
nach § 1632 IV BGB führen. Grundsätzlich aber gilt, dass eine behutsame Rückführung
ins Elternhaus mittels gleitender Übergänge vorrangig anzustreben ist29.
Amtsgericht - Familiengericht – Holzminden
Stand: 16. September 2008
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