Formen der Kindeswohlgefährdung

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Heinz
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Formen der Kindeswohlgefährdung

von Heinz am 22.02.2009 22:40

Formen der Kindeswohlgefährdung

Ute Walliser, Psychologin des Instituts für Rechtspsychologie Halle, stellte das Verfahren aus Sicht der gerichtlichen Gutachterin dar, indem sie am Beispiel von Bindungen anschaulich dokumentierte, wie Gerichtspsychologen arbeiten.

1. Kindeswohlgefährdungen

Im nachfolgenden Beitrag werden zunächst die Formen der Kindeswohlgefährdung, die in der psychologischen Begutachtung auftreten, vorgestellt. Dem schließt sich eine Darstellung von Kindheitsbedingungen an, die als Risiken für die psychische Gesundheit im Erwachsenenalter anzusehen sind. Exemplarisch wird veranschaulicht, wie spezifische Kindheitsbelastungen und damit einhergehende neurologische und psychologische Veränderungen beispielsweise zur Entwicklung depressiver Störungen im Erwachsenenalter führen können.

Ergebnisse aus einer eigenen Studie zu Kindheitsbelastungen und Gesundheit werden vorgestellt. Eine Erläuterung spezifischer Bindungsstile und –störungen schließt sich an. Die Funktion und Entstehung von Bindungen wird dabei erörtert. Der Zusammenhang von kindlicher Bindung und elterlicher Erziehungskompetenz erscheitn dabei wesentlich.

Abschließend erfolgt eine Illustration der Tätigkeit des psychologischen Sachverständigen im Rahmen der familienpsychologischen Begutachtung am Beispiel von Binudngen und Bindungsstörungen. Spezifische Strategien der Erhebung von Bindungen und Beziehungsstörungen werden hierzu vorgestellt.

Eine sorgfältige Unterscheidung zwischen den verschiedenen Formen der Kindeswohlgefährdung erscheint wesentlich und bedingt differentielle Strategien familienpsychologischer Begutachtung. MÜNDER (2000) unterscheidet folgende Formen der Kindeswohlgefährdung,

* Vernachlässigung,
* Misshandlung,
* Missbrauch, von Erwachsenenkonflikten um Trennung, Herausgabe und Umgang
* Autonomiekonflikte Jugendlicher.


Bei Vernachlässigung und Misshandlungen ist mit einer Verunsicherung oder Bindungsstörungen zu rechnen. Psychologisches Wissen und die Vorgehensweise in der Begutachtung bei solchen traumatisierten Kindern lässt sich jedoch nicht ohne weiteres auf Kinder in Umgangs- oder Sorgerechtskonflikten übertragen.

Bei der Begutachtung traumatisierter Kinder steht zunächst die Diagnostik des Entwicklungsstandes und kindlicher Kompetenzen im Vordergrund. Hausbesuche in der Primärfamilie dienen u.a. der Einsicht in die Betreuungs- und Versorgungssituation. Untersuchungen der familiären Beziehungen können zur Abklärung möglicher Bindungsstörungen beitragen. Dagegen kann bei Umgangskonflikten die Begutachtung der Betreuung- und Versorgungssituation ein untergeordnetes Ziel darstellen. Die Diagnostik familiärer Beziehungen und Bindungen steht meist im Mittelpunkt. Bindungsstile werden beispielsweise im Rahmen von Interaktionsbeobachtungen erfasst, auch um den kindlichen Willen bei sehr kleinen Kindern zu ersetzen. Hypothesen zu Bindungsstörungen sind ebenfalls möglich. Man sieht sich beispielsweise auch mit grenzüberschreitendem Elternverhalten, symbiotischen Bindungen oder Instrumentalisierungen der Kinder als Partnerersatz konfrontiert.


2. Kindheitsbelastungen als Risikofaktoren für die Gesundheit im Erwachsenenalter


In empirischen Längsschnittstudien werden Risikofaktoren der kindlichen Entwicklung und deren Auswirkungen auf körperliche und psychische Gesundheit im Erwachsenenalter untersucht. Auf der Bezugspersonenebene sind hier u.a.

* Gewalt
* chronische Konflikte
* schwere körperliche bzw. psychische Krankheit (u.a. Sucht)

zu nennen. Diese sind Beispiele für chronisch stressreiche Lebensbedingungen des Kindes.
Solche Belastungen erhöhen die Gefahr der Entwicklung von psychischen Beeinträchtigungen im Erwachsenenalter. Insbesondere deren kumulatives Einwirken auf die Entwicklung des Kindes führt zu einer erhöhten Vulnerabilität (ESSER, 1994). Ausführliche Darstellungen von Risikofaktor-Modellen finden sich u.a. bei FELITTI (2002) und EGLE ET AL. (2005).

Neuere Studien verdeutlichen die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtungsweise. Etwa eine frühzeitige Krippenbetreuung (ab dem 1. Lebensjahr) wurde bislang als Risikofaktor im Sinne einer frühzeitigen Trennung angesehen. Eine Studie von ZIEGENHAIN (1998) weist nunmehr darauf hin, dass sich nicht die Trennung als solche, sondern die Gestaltung des Übergangs in die Krippe (Anwesenheit der Mutter in der Eingewöhnungszeit) auf die Entwicklung der Bindungssicherheit des Kindes auswirkt. In einer eigenen Studie werden die Folgen stressreicher Kindheitsereignisse auf den Verlauf einer körperlichen Krankheit im Erwachsenenalter untersucht. Die Resultate zeigen u.a., dass der Tod eines Elternteils oder eine Trennung von der Bezugsperson per se keine Auswirkungen auf die Krankheitsbewältigung erkennen lassen (WALLISER, 2005).

Andere Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass es die Konflikte vor bzw. im Zusammenhang mit einer Trennung oder Scheidung sind, die sich negativ auf das psychische Wohl des Kindes auswirken. Aus aktuellen Forschungsergebnissen lässt sich demnach ableiten, dass nicht die Trennung als solche, sondern deren Begleiterscheinungen zu Konsequenzen für die weitere Entwicklung des Kindes führen.

Auf der Ebene des Kindes wird angenommen, dass eine unsichere Bindung alleine nicht als Risiko für die Entwicklung psychischer Beeinträchtigungen im Erwachsenenalter anzusehen ist. In Verbindung mit weiteren Belastungsfaktoren erhöht sich jedoch das Risiko für spätere Verhaltensprobleme. Bei der Beurteilung der Auswirkungen von Risikofaktoren sollte insbesondere das Alter und der Entwicklungsstand des Kindes ebenso wie Kompensationsmöglichkeiten durch sogenannte protektive Faktoren berücksichtigt werden. Hierbei kann eine sichere Bindung wiederum als Schutzfaktor wirken. Eine sichere Bindung im Kindesalter ist u.a. mit günstigen Bewältigungskompetenzen und positivem Selbstgefühl im Erwachsenenalter assoziiert.

Eine Studie von RAPHAEL (2001) untersucht in der Kindheit durch sexuellen Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung (vor dem 11. Lebensjahr) traumatisierte Erwachsene (juristisch dokumentierte Fälle). Die Studienteilnehmer werden in Bezug auf Kindheitsbelastungen und Schmerzerkrankungen im Erwachsenenalter befragt. Verglichen werden faktische Dokumentationen von Kindheitstraumatisierungen mit retrospektiven Selbsteinschätzungen kindlicher Belastung. Die Resultate zeigen, dass 75% der Personen mit dokumentierten Traumatisierungen bei der Befragung angaben, Belastungen erlebt zu haben. 49% der Teilnehmer ohne dokumentierte Angaben von Traumatisierungen gaben ebenfalls stressreiche Kindheitsereignisse an. Dieses Ergebnis weist u.a. könnte ebenfalls auf Kompensationsmöglichkeiten durch protektive Faktoren hin.

Insgesamt weisen aktuelle Forschungsergebnisse auf die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung von Risiko- und Schutzfaktoren und deren jeweils spezifische Auswirkungen auf die Gesundheit im Erwachsenenalter hin.


3. Ätiologie der Depression

Kindheitstraumata bedingen ein erhöhtes Risiko für psychische Probleme im Erwachsenenalter. Im Folgenden wird beispielhaft vorgestellt, welche kausalen Mechanismen zwischen belastenden Kindheitsbedingungen und depressiven Erkrankungen im Erwachsenenalter von modernen Depressionstheorien postuliert werden.

In seinem psychobiologischen Modell der Depressionsentstehung zeigt ALDENHOFF (2000) modellhaft die stufenweise Ätiologie der Depression. Das frühzeitige Stresserleben in der Kindheit kann dabei, auch über die Veränderung neurologischer Strukturen, zum Auftreten einer depressiven Störung im Erwachsenenalter führen (vgl. Abbildung).


4. Studienergebnisse

In einer eigenen Studie wird bei Patienten mit einem eindeutig somatischen Krankheitsbild, dem bandscheibenbedingten Rückenschmerz, gezeigt, wie sich frühe Stressbelastungen (der ersten zwölf Lebensjahre) auf die Schmerzverarbeitung und Entstehung depressiver Störungen auswirken (WALLISER, 2005). Mit den Patienten wird u.a. ein standardisiertes biographisches Interview zu Kindheitsbelastungen durchgeführt.

Die Studienteilnehmer, akute Schmerzpatienten mit einem Durchschnittsalter von 40 Jahren und einer mittleren Schmerzdauer von 3 Monaten, werden bei Klinikaufnahme und sechs Monate nach ihrer Entlassung untersucht. Personen, die in ihrer Kindheit

* chronische Konflikte zwischen den Bezugspersonen,
* Suchterkrankungen der Bezugspersonen,
* Misshandlungen,
* Tod einer Bezugsperson und
* Sexuellen Missbrauch

erlebt haben, sechs Monate nach der Entlassung aus der Klinik über stärkere Schmerzen klagen als Personen ohne diese belastenden Kindheitsbedingungen. Mit dem summativen Ausmaß stressreicher Kindheitsereignisse steigt die Schmerzstärke sechs Monate nach Entlassung kontinuierlich an.

Außerdem führt ein starker akuter Schmerz bei Personen mit ausgeprägter Kindheitsbelastung zu höheren Depressivitätswerten, als bei Teilnehmern mit wenig belastenden Kindheitsbedingungen. Patienten mit hoher und geringer Kindheitsbelastung weisen bei ihrer Aufnahme in die Klinik einen vergleichbaren Depressivitätswert auf. Sechs Monate nach ihrer Entlassung unterscheiden sie sich in ihrem durchschnittlich Depressivitätsausmaß in bedeutsamer Weise.


5. Bindungsstile und -störungen

Verunsicherungen und insbesondere Störungen kindlicher Bindungen können als Risiken für die spätere Gesundheit im Erwachsenenalter angesehen werden. Sichere Bindungen gelten dagegen als protektive Faktoren. Vor dem Hintergrund der dargestellten empirischen Ergebnisse erweist sich die Diagnostik kindlicher Bindungen als wesentliche Basis familienpsychologischer Begutachtung. Deshalb werden im folgenden Abschnitt zunächst wichtige Erkenntnisse der Bindungstheorie vorgestellt. Anschließend sollen Strategien der Bindungsdiagnostik erläutert werden.

Als Bindung wird ein dauerhaftes, d.h. über Ort und Zeit hinweg persistierendes emotionales Band zwischen zwei Individuen definiert. Dieses wird durch die inneren Repräsentanzen der Bindungspartner charakterisiert. Es entsteht auf der Grundlage der Interaktionserfahrungen der Bindungspartner (HEDERVARI, 1995).

Juristisch wird der Begriff der Bindung in einem umfassenden Sinn, der alle Beziehungsebenen des Kindes zu einer Bezugsperson meint, verstanden. Bindung hat keine höhere Wertigkeit gegenüber anderen Kriterien wie etwa Kontinuität oder Betreuungsmöglichkeiten (SALZGEBER, 2001).

Aus psychologischer Perspektive steht demgegenüber der Vertrauensaspekt einer Beziehung im Vordergrund. Eine sichere Bindung vermittelt dem Kind das Gefühl von Geborgenheit. Diese entsteht durch adäquates Reagieren der Bezugsperson auf die Bedürfnisse des Kindes („Feinfühligkeit“). Elterliche Feinfühligkeit ist daher ein wichtiger Teil der Erziehungskompetenz.

Kindliche Bindungen dienen der Überlebenssicherung und stellen ein Motivationssystem in Stress und Gefahrensituationen dar. Bindungsverhalten ist im Weinen, Kontaktsuchen, Krabbeln, Nachlaufen, Anklammern des Kindes zu erkennen. Die Entstehung kindlicher Bindungen erfolgt im ersten Lebensjahr zu einer oder mehreren Bezugspersonen nach folgendem zeitlichen Ablauf (vgl. AINSWORTH ET AL., 1973):

1. 0-3 Monate, Vorphase: Orientierung und Signale ohne Unterscheidung der Person
2. 3-7 Monate, Phase der Personen unterschiedene Ansprechbarkeit: Kind wendet seine Signale bevorzugt spezifischen vertrauten Personen zu und erweitert sein Repertoire an Bindungsverhalten.
3. 7 Monate, Phase der eigentlichen Bindung: Aufrechterhaltung von Nähe aktiv durch Fortbewegung und Signale.
4. 2-3 Lebensjahr, Phase der zielkorrigierten Partnerschaft: Innere Arbeitsmodelle stabilisieren sich. Es entsteht zunehmend eine zielkorrigierte Partnerschaft zwischen Bindungspartnern. Kind beginnt, Ziele und Pläne der Bezugspersonen einzubeziehen und zu berücksichtigen.


Die Stärke einer Bindung ist unabhängig von ihrer Qualität. Auch misshandelte Kinder können eine starke, intensive oder tiefgreifende Bindung an ihre Bezugsperson haben. Die Qualität ist dagegen abhängig vom Temperament des Kindes, dem Verhalten, d.h. der Feinfühligkeit der Bezugsperson sowie deren Bindungsrepräsentanzen. Letztere beruhen auf eigenen Beziehungserfahrungen. Bindung meint nicht Abhängigkeit, sondern sie ermöglicht im besten Falle zunehmende Autonomieentwicklung eines Kindes, wenn es über eine sichere emotionale Ausgangsbasis verfügt.
Unsichere Bindungen sind als normale Bindungsqualitäten anzusehen und stellen keine Störungen im klinischen Sinne dar. Die in der folgende Abbildung aufgeführten Bindungsqualitäten bzw. –stile und –störungen werden differenziert (Brisch, 1999).

Stile

* Sicher
* Unsicher - vermeidend
* Unsicher – ambivalent
* Desorganisiert


Störungen

* Ohne Bindungsverhalten
* Undifferenziert
* Übersteigert
* Gehemmt
* Aggressiv
* Psychosomatisch



Die folgende exemplarische Beschreibung spezifischer Bindungsstörungen beruht auf einer Darstellung von BRISCH (1999).

Kinder mit einer Störung „ohne Anzeichen von Bindungsverhalten“ zeigen vermeidendes Bindungsverhalten in Extremform. Auf Trennungssituationen reagieren sie mit undifferenziertem Protest oder zeigen keine Reaktion. Diese Störung findet man gehäuft bei Heimkindern oder bei Kindern mit vielfältigen Beziehungsabbrüchen.

Bei sogenanntem „übersteigertem Bindungsverhalten“ findet man eine Neigung zu exzessivem Klammern. Die betreffenden Kinder fühlen sich nur in absoluter Nähe zur Bindungsperson ruhig. Sie zeigen eine Überängstlichkeit in neuen Situationen. Auf Trennungen reagieren sie mit panischer Angst. Solche Bindungsstörungen treten beispielsweise bei Kindern von psychisch kranken Müttern auf (z.B. Angststörungen). Die Bezugspersonen können ihre Verlustängste auf ihre Kinder übertragen und instrumentalisieren sie zur eigenen emotionalen Absicherung.

Bei Störungen mit „gehemmtem Bindungsverhalten“ findet man übermäßige kindliche Anpassungshaltungen. Eigene Bedürfnisse werden unzureichend artikuliert. Solche Störungen können beispielsweise nach körperlicher Misshandlung auftreten und insofern einen diesbezüglichen Verdacht nahe legen.

Kindliches Bindungs- und elterliches Fürsorgeverhalten sind als komplementär anzusehen. Während Bindungsverhalten dazu dient, Nähe und Sicherheit herzustellen, dient das Fürsorgeverhalten der Herstellung einer positiven Befindlichkeit beim Kind. Im Rahmen eines emotionalen Dialoges zwischen Bezugsperson und Kind werden wechselseitig Signale verstanden. Die Bezugsperson bestätigt durch emotionale Reaktionen kleinste Lernfortschritte des Kindes und verstärkt diese mit Lächeln, Freude und weiteren verbalen und nonverbalen Signalen. Dem Kind wird dadurch ein Gefühl der Kompetenz vermittelt. Es wird motiviert, Neues zu erkunden und zum Lernen angeregt. Das Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeit des Kindes wird gestärkt. Wenn dieser Dialog etwa auf Grund fehlender elterlicher Feinfühligkeit z.B. im Rahmen einer schweren psychischen Störung oder spezifischen Behinderung der Bezugsperson fehlschlägt, wird Ängstlichkeit, Unsicherheit, Hilflosigkeit gefördert, das Lernen erschwert und kindliche Erkundungen gehemmt.

In Bezug auf eine Scheidungssituation kann elterliche Feinfühligkeit beispielsweise darin bestehen, ein betroffenes Kind in angemessener Weise über die elterliche Trennung und den Weggang eines Elternteils zu informieren. Damit kann vermieden werden, dass die Situation vom Kind schuldhaft verarbeitet wird. Offenes Reden über Sorgen, Befürchtungen und Wünsche des Kindes, ohne die Situation zu beschönigen stellt ebenfalls feinfühliges Elternverhalten dar. Vom Grad elterlicher Feinfühligkeit hängt es ab, ob ein Elternteil hier das richtige Maß findet. Wenn das Bedürfnis nach elterlicher Entlastung im Vordergrund steht, wird das Kind oft in grenzüberschreitender und überfordernder Weise über den Partnerkonflikt informiert.



6. Familienpsychologische Begutachtungsstrategien

In der familienpsychologischen Begutachtung wird das Kindeswohl als Zusammenspiel verschiedener Kriterien angesehen. Diese lassen sich der Bezugspersonen- und der Kindebene zuordnen (SALZGEBER, 2001).

Die gerichtliche Fragestellung gibt vor, welche Kriterien im Vordergrund der Begutachtung stehen. In einem Trennungs- und Scheidungsverfahren ist es möglich, dass die Frage nach dem uneingeschränkten Willkommensein, die Betreuungssituation und die Erziehungsfähigkeit unstreitig erscheinen. Hingegen können beispielsweise Bindungstoleranz, Kontinuität und Kooperation in Frage stehen. Wenn der Sachverständige allerdings aus psychologischer Sicht einen Lebensmittelpunkt des Kindes empfehlen soll, werden neben den Bindungen auch die elterliche Feinfühligkeit und die konkreten Erziehungsbedingungen exploriert. Grundsätzlich geht es nicht um eine möglichst umfassende Erhebung sämtlicher Kindeswohlkriterien, sondern um eine differenzierte Betrachtung der wesentlichen Faktoren, die sich aus der gerichtlichen Fragestellung ableiten.

Auf Seiten des Kindes bestehen verschiedene Möglichkeiten Bindungen zu diagnostizieren. Der „Fremde-Situations-Test“ (vgl. AINSWORTH & WITTIG, 1969) kann etwa ab dem achten bis etwa zum 20. Lebensmonat eingesetzt werden.

Da Bindungen als ein „theoretisches Konstrukt“ zu betrachten sind, können sie nicht direkt erfasst bzw. gemessen werden. Bei jüngeren Kindern wird insbesondere aus dem Verhalten in Trennungssituationen auf die Bindung und deren Qualität geschlossen. Schon am Ende des ersten Lebensjahres haben die Kinder primitive Vorstellungen und Erwartungen an das Verhalten ihrer Bezugsperson entwickelt und ihr Verhalten daran angepasst. Aus Reaktionen in kritischen Situationen wird auf diese kindlichen Erwartungen geschlossen.

Wenn ab etwa drei Jahren fortgeschrittene sprachliche und kognitive Fähigkeiten vorhanden sind, kann die Qualität ihrer Bindungen aus Handlungen und Erzählungen erschlossen werden. Dazu werden standardisierte Bedingungen vorgegeben. Man geht davon aus, dass eine mentale Vorstellung durch die konkrete Interaktionserfahrung mit den Bindungspersonen entsteht. Diese können in ihrer Qualität sicher oder unsicher sein.

Auch im symbolischen Spiel über Geschichten oder Satzergänzungsverfahren werden Ereignisschemata zu spezifischen Erfahrungen angesprochen. In der mittleren Kindheit können daher in Puppenspielen mit Familienfiguren Erfahrungen mit Trennung und emotionaler Sicherheit erhoben werden.

Beim „Separation-Anxiety-Test“ (HANSBURG, 1980) werden Trennungsbilder vorgelegt und mit der Aufforderung verbunden, zu erzählen, was vom Kind wahrgenommen wird. Über die Produktion von Geschichten anhand nichtsuggestiver Befragungstechniken werden die kindlichen Vorstellungen von Bindung erfasst.

Der „Fremde-Situations-Test“ (vgl. AINSWORTH & WITTIG, 1969) soll auf Grund seines häufigen Einsatzes in der Familienbegutachtung nachfolgend vorgestellt werden. Ziel des Verfahrens ist die standardisierte Beobachtung von Bindungs- und Explorationsverhalten. Der Test besteht aus den folgenden acht Episoden, die zwei Trennungen und zwei Wiedervereinigungsszenen beinhalten:

1. Untersucher führt Mutter und Kind in Raum
2. Mutter und Kind bleiben allein im Raum, Mutter liest, Kind spielt
3. Fremde kommt hinzu, stellt sich vor, nähert sich dem Kind
4. Mutter geht, Fremde bleibt mit Kind allein
5. Mutter kommt zurück: Wiedervereinigungsszene
6. Mutter geht wieder, Kind allein
7. Fremde kommt und interveniert wenn nötig
8. Mutter kommt zurück: Wiedervereinigungsszene

Für die Bestimmung der Bindungsqualität werden die Wiedervereinigungssituationen anhand der unten aufgeführten Ratingskalen vom Untersucher bewertet. Es stehen dabei die Dimensionen Nähesuchen, Kontaktverhalten, Widerstand gegen Körperkontakt und Vermeidungsverhalten im Vordergrund.

Nachfolgend werden die daraus abgeleiteten Bindungsqualitäten stichwortartig beschrieben.

(A) Unsicher-vermeidende Bindung (ca. 10-20% der Bevölkerung): Geringe Artikulation von Bindungsbedürfnissen in Belastungssituationen, Vermeiden der Nähe zur Bezugsperson. Explorationsverhalten überwiegt, Anpassung an die Erwartungen der Bezugsperson, frühe Selbständigkeit bzw. Selbstregulation der Emotionen Angst und Ärger.

(B) Sichere Bindung (ca. 70%): Kind zeigt seine emotionale Belastung, kann aber auch leicht beruhigt werden. Äußern von Bedürfnissen, Missstimmungen und Kummer, wissen, dass sie getröstet werden, stützen sich in Not- und Stresssituationen auf ihre Bezugsperson, die als verlässlich erlebt werden.

(C) Unsicher-ambivalente Bindung (ca. 5-10%): Kind zeigt wenig Explorationsverhalten und erscheint von vorneherein belastet, bei Trennungen sehr stark beunruhigt. Bei Wiedervereinigung mit der Bezugsperson wechseln das Suchen von Nähe und Unmutsäußerungen ab (kindliche Ambivalenz). Das Kind lässt sich von der Bezugsperson kaum beruhigen. Die Bezugsperson erscheint ebenfalls wechselhaft (ambivalent) und wenig nachvollziehbar in ihren erzieherischen Interventionen, einerseits zeigt sie übermäßige Zuwendung andererseits erscheint sie hilflos. Übertriebene Gefühlsäußerungen des Kindes dienen dazu, die Aufmerksamkeit der Bezugsperson zu erregen und diese emotional abzusichern. Das Kind ist von seinen Bemühungen gegenüber der Bezugsperson stark in Anspruch genommen und kann daher kaum explorieren.

(D) Unsicher desorientierte Bindung (5-10%): Es treten stereotype Verhaltensweisen auf, die inadäquat bezüglich der Situation erscheinen, wie etwa Erstarren, ins Leere blicken. Das Kind hat keine adäquate Verhaltensstrategie für eine Notsituation verfügbar. Bindungsstörungen können infolge von Misshandlungen, Vernachlässigung auftreten.

Im Rahmen der familienpsychologischen Begutachtung kann u.a. die Übergabesituation der Bezugspersonen bei Trennungs- bzw. Scheidungskindern vom Sachverständigen als kritische Situation des Kindes beobachtet werden.

Im „Separation-Anxiety-Test“ wird mit Abbildungen gearbeitet, die Trennungssituationen zeigen. Der Test beruht auf der Annahme, dass die Reaktionen von Kindern auf Trennungsbilder Rückschlüsse auf eigene Erfahrungen und also auf ihre Bindungsrepräsentationen zulassen. Die Abbildungen zeigen beispielsweise folgende Situationen:
1. Eltern gehen abends aus und lassen das Kind zu Hause
2. Eltern fahren über Wochenende weg und lassen Kind bei Onkel/Tante
3. Erster Schultag
4. Eltern verreisen für zwei Wochen und machen Kind vor Abfahrt ein besonders attraktives Geschenk
5. Eltern schicken Kind zum Spielen in den Park, weil sie sich alleine unterhalten wollen
6. Bezugsperson bringt Kind ins Bett und verlässt das Zimmer

Zu den Abbildungen werden Fragen gestellt: Wie fühlt sich das Kind auf dem Bild? Was könnte das Kind tun, wie wird es reagieren? Hierdurch sollen kindliche Gefühle und Bewältigungsfähigkeiten in Belastungssituationen erfasst werden.

Die Antworten werden folgenden Kategorien zugeordnet:
1. Wenn das Kind konstruktiv mit einer Trennungs- bzw. Belatsungssituation umgeht und Gefühle artikuliert, wird dies als „resourceful“ bewertet.
2. Wenn das Kind sich als belastet erlebt, hilflos erscheint und keine Bewältigungsmöglichkeiten sieht, wird dies einer „unsicher-inaktiven“ Bindung zugeordnet.
3. Wenn das Kind widersprüchliche Angaben macht und dazu neigt, den Eltern gefallen zu wollen, entspricht dies einem unsicher-ambivalenten Muster.
4. Wenn das Kind unbestimmte Furcht, desorientierte Gedanken bei fehlenden konstruktiven Strategien artikuliert, wird diese Reaktion als „desorganisiert“ kategorisiert.

Bei der Beobachtung einer realen Übergabesituation in der familienpsychologischen Begutachtung haben sich die unten aufgeführten Dimensionen nach HACKENBERG ET AL. (1984) bewährt. Da Bindungs- und Explorationsverhalten zueinander in einer komplementären Beziehung stehen, können aus einem Vergleich der Verhaltensweisen des Kindes beim Hausbesuch (vertraute Umgebung) und in der Untersuchungssituation (fremde Situation) Rückschlüsse gezogen werden.

In einer freien Spielsituation, in der kein Bindungsverhalten aktiviert wird, werden dagegen Merkmale der Eltern-Kind-Kooperation, des kindlichen Temperaments sowie der elterlichen Förderkompetenzen erfasst und ebenfalls beurteilt. Hierzu können beispielsweise die unten aufgeführten Ratingskalen nach HACKENBERG ET AL. (1984) herangezogen werden.



7. Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Rahmen der psychologische Begutachtung auf der Ebene der Bindungen im Kindesalter, Risiken gesehen werden, für psychische Beeinträchtigungen oder gar Störungen im Erwachsenenalter.

Aktuelle Forschungsergebnisse weisen auf die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung von Risiko- und Schutzfaktoren und deren jeweils spezifische Auswirkungen auf die Gesundheit im Erwachsenenalter hin. Die Bindungsforschung zeigt, dass elterliche Feinfühligkeit als Teil der Erziehungskompetenz und die sich entwickelnde Bindung als komplementär anzusehen sind.

Zur Verbesserung diesbezüglicher elterlicher Kompetenzen, kann ein sogenanntes „Feinfühligkeitstraining“ empfohlen werden. Solche Maßnahmen werden jedoch bislang nur höchst selten angeboten. Ein dringender Bedarf wird insbesondere bei der psychologischen Begutachtung psychisch kranker oder behinderter Eltern deutlich.

Elterntrainings, wie etwa „Triple-P“ können außerdem einen, auch präventiven Beitrag leisten. Sie zielen auf eine Verbesserung der Eltern-Kind-Kommunikation und der Erziehungsfähigkeit und wirken somit auch auf die kindlichen Bindungen.

Der psychologische Sachverständige ist seitens der Eltern außerdem häufig mit Wissensdefiziten konfrontiert. In den Frankeschen Stiftungen zu Halle wird im Bereich der Erziehungswissenschaften aus solchen Gründen derzeit angedacht, wissenschaftliche Arbeiten zum Thema „Erziehung als Unterrichtsfach“ durchzuführen.

Literatur
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· BRISCH, H. (1999). Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta.
· EGLE, U. T., HOFFMANN. S. O. & JORASCHKY, P. (2005) (Hrsg.), Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. Stuttgart: Schattauer.
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